Wenn Sie allein auf der Welt wären, gäbe es das Problem nicht, für das Sie sich gerade einen Berater suchen. (Allerdings gäbe es dann auch keine Berater…)
Drängende Probleme entstehen in den meisten Fällen in zwischenmenschlichen Zusammenhängen und haben selber wiederum auch Auswirkungen auf diese. Mit dem Wort „System“ bezeichnen wir solche Zusammenhänge, z.B.: Partnerschaft, Eltern-Kind-Beziehung, Familie, Freundschaft, Betrieb, Organisation, Partei, Verein… Allerdings sind auch Sie als Individuum selbst schon ein System.

Wenn „tote Systeme“ gestört sind, erzielen wir meist gute Erfolge, wenn wir ein Element des Systems als Ursache identifizieren und heilmachen oder ersetzen. (Das Auto fährt nicht, also suchen wir nach dem defekten Aggregat. Ah ja…der Anlasser ist kaputt/schuld. Reparieren oder ersetzen, und gut is.)

Die Systemik glaubt nicht daran, dass diese Art der „Fehlersuche“ auf lebende Systeme übertragbar ist. Hier haben wir es nämlich nicht mit einfachen Ursache-Effekt- und Aktion-Reaktion-Prozessen zu tun, sondern mit ständigen Rückkopplungen unter den Beteiligten sowie zwischen jedem Beteiligten und dem System. Es gibt keine Aktion, die nicht selbst Reaktion ist, und es gibt keine Ursache, die nicht selbst Effekt ist. Aktionen sind sogar manchmal Reaktionen auf bloss erwartete Aktionen. Wenn eine Person im System leidet, Probleme hat, „auffälliges“ Verhalten zeigt etc., kann es nicht darum gehen, die Person zu „reparieren“, denn diese Symptome sind entstanden in Reaktion auf die Bedingungen des Systems. Wir sehen solche Probleme und Verhaltensweisen also nicht als den „Defekt“, sondern eher als das Warnlämpchen dafür, dass das System nicht optimal läuft. Gleichzeitig verstehen wir sie als den (vielleicht nicht für alle nachzuvollziehenden) Versuch der betreffenden Person, konstruktiv am Erhalt der Funktionsfähigkeit des Systems mitzuwirken (von der die Person selbst ja abhängt).

Als Mitglied einer Familie z.B. haben Sie (und jedes andere Mitglied) zwei Grundanliegen: zum einen den Selbsterhalt und die Erfüllung Ihrer individuellen Bedürfnisse, zum andern den Erhalt und die Stabilisierung des Systems (also Ihrer Familie, von deren Wohlergehen Ihr persönliches Wohlergehen ja wiederum abhängt). In der Praxis erleben wir den Versuch, beide Anliegen gleichzeitig zu verfolgen, oft als Spagat. Es entsteht ein Spannungsfeld, dem die meisten der Familienprobleme Ihre Entstehung verdanken, und das in einer für Sie guten Lösung berücksichtigt sein muss.

Darüber hinaus sind (insbesondere in schon langandauernden Konflikten) diese Verhaltensweisen für die andern Beteiligten selbst schon zu Bedingungen des Systems geworden, die wiederum sie veranlasst haben, ihre eigenen Strategien für den Erhalt des Systems zu entwickeln. Die blosse Beseitigung der vermeintlichen „Störung“ einer Person (so das denn überhaupt möglich ist) würde also die Funktionsweise des gesamten Systems bedrohen (anstatt sie, wie es in der mechanistischen Sichtweise erhofft wird, zu optimieren). Während die Komplexität eines ständig im Wandel begriffenen lebendigen Systems den nach logischen Lösungen suchenden Diagnostiker and Analytiker früher oder später wohl zur Verzweiflung bringen wird, verlassen wir uns auf einen grossen Vorteil:
Jede noch so kleine Veränderung im Verhalten eines Mitglieds des Systems führt zwangsläufig Veränderungen im Verhalten der andern Mitglieder, und damit der Funktionsweise des Systems. Wie oben ausgeführt, sind diese zwar nicht im Sinne von „Ich mach das, dann macht der dieses, dann passiert jenes…“ vorhersehbar oder planbar; in den meisten Fällen bringt aber schon die blosse Tatsache, dass sich überhaupt etwas bewegt und damit das ganze System in Bewegung bringt, frischen Wind in ein System, in dem sich alle Beteiligten bereits auf vermeintlich konstruktive Reaktionen auf die vermeintlich destruktiven Aktionen der andern Beteiligten festgelegt haben.

Kein Mensch ist eine Insel.
(John Donne, 1572-1631)